Geschichte der
Mondkalender

Moderne Mondkalender aus Sicht der Volkskunde
von Helmut Groschwitz

Seit den 1990er Jahren erleben Mondkalender, eine spezifische Form astrologischer Kalender und Ratgeber, die sich zentral auf den Mondlauf beziehen, eine enorme Verbreitung, die Auflagenzahlen gehen in die Millionen. In diesen Kalendern und Regelsammlungen werden zu verschiedenen Mondständen (Mondphasen, Deklination, siderischer Mondlauf und weitere) Ratschläge zum "richtigen Zeitpunkt" für alltägliche Handlungen angeboten; das Anwendungsspektrum reicht von Land- und Forstwirtschaft über Gesundheit, Körperpflege und Wellness bis hin zu Hausarbeit und Bautätigkeiten. So soll etwa der abnehmende Mond alles befördern, das mit einem Verschwinden zu tun hat, z.B. das Waschen erleichtern (der Schmutz soll verschwinden). Oder das dem Mondlauf jeweils zugehörige Tierkreiszeichen soll das Pflanzenwachstum spezifisch beeinflussen:

„Für das Jäten und Ausreißen von Unkraut ist der abnehmende Mond die geeignete Zeit, am günstigsten beim Zeichen Steinbock.“

Ähnliches gibt es für die Körperpflege:
„Der rechte Zeitpunkt: Löwetage und Jungfrautage sind Haarschneidetage – gleichgültig, ob der Mond ab- oder zunimmt!
An Fische- und Krebstagen sollte man auf das Haareschneiden verzichten.“

Basis der Mondkalender ist dabei die Annahme einer Analogie zwischen verschiedenen Mondständen und irdischen Vorgängen, die über die Gezeiten, das Mondlicht und die Chronobiologie hinausgeht. In zahlreichen Studien wurden solche durch Gravitation und Mondschein nicht erklärbaren Mondeinflüsse weitgehend falsifiziert – ist das kulturelle Phänomen damit erklärt und nur eine von vielen Formen moderner Irrationalität?
Im Folgenden geht es nicht um die Frage nach einer empirischen Überprüfbarkeit, vielmehr soll ein volkskundlicher Zugang zu dem Thema gezeigt werden. Dieser beinhaltet eine Darstellung der Genese der modernen Mondkalender sowie einige Beobachtungen zur Praxis und den dahinterstehenden Funktionen im Alltag der Anwender.

Zur Entwicklung der modernen Mondkalender
Die in den modernen Mondkalendern enthaltenen Mondregeln sind sehr heterogen, es gibt keinen festen Bestand an Aussagen, vielmehr zahlreiche Varianten. Als Beispiel seien hier zwei Regeln genannt, die zwar denselben Effekt betreffen, sich aber auf zwei voneinander unabhängige Rhythmen beziehen. In einer schweizerischen Sammlung von 1972 findet sich folgende Regel:

„Hochwasser haben bei Nidsigend [=absteigender Mond] die Tendenz zu graben, also die Sohle zu vertiefen, zu wühlen.“

Johanna Paungger nennt in ihrer Regelsammlung 1991:
„[…] bei abnehmendem Mond schwemmt der Bach den Kies aus und führt ihn mit sich.“

Solche Varianten finden sich zum einen im historischen Vergleich, zum anderen auch innerhalb der heutigen Mondkalender. Dagegen wiederholen sich in den Werken einige Aussagen, die eine Basis des populären modernen Mondkalenderglaubens bilden. Dazu zählt die Behauptung, dass es sich bei den in den Mondkalendern enthaltenen Regeln um ein altes Bauernwissen handele. Prototypisch wird dies z.B. in dem Werk "Vom richtigen Zeitpunkt" von Johanna Paungger und Thomas Poppe von 1991 beschrieben, das den Boom der 1990er Jahre auslöste:

“Seit vielen Jahren werde ich immer wieder gebeten, ein Wissen weiterzugeben, mit dem ich von frühester Kindheit an aufgewachsen bin - das Wissen um die Mondrhythmen, um die Einflüsse auf alles Leben auf der Erde, die vom Stand des Mondes und den Mondphasen angezeigt werden. Ich verdanke es meinem Großvater, der mir beibrachte, daß Gespür, Schauen und Erfahren der Schlüssel zu vielen Dingen in der Natur ist, die durch die Wissenschaft allein nicht entschleiert werden können. […] Wenn sich auch nur eine Person dieser naturgegebenen Sache annimmt, dann bleibt ein altes Wissen lebendig, das sich über Jahrhunderte durch Weitererzählen, Ausprobieren und Anwenden gehalten hat und das gerade heute für uns alle und für die Welt, in der wir leben, von großem Wert sein könnte.”

Es scheint verlockend zu sein, hier eine alte Alltagspraxis, ein verlorenes Wissen wieder aufzugreifen. Allerdings lässt sich ein derart kohärentes und komplexes System an Mondregeln, wie es bei Paungger und Poppe beschrieben wird, in historischen Quellen nicht nachweisen. Andererseits finden sich durchaus Mondregeln in Druckwerken seit der Frühen Neuzeit. Daher soll die Genese der modernen Mondkalender exemplarisch vorgestellt werden.

Eine sehr frühe Form von Kalendern mit lunarem Bezug stellen die spätmittelalterlichen "Lassbriefe" dar, die geeignete Zeiten für medizinische Therapien – Aderlass, Schröpfen und Purgieren – angaben. Die Grundlage bildet die mittelalterliche und frühneuzeitliche Medizin, die entsprechend dem neuplatonischen Modell einer Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos von einem Zusammenhang der Gestirne mit einzelnen Körperteilen ausging. Ebenso zentral war die Humoralpathologie, nach der das Gleichgewicht der vier Säfte (Blut, Schleim, Galle, schwarze Galle) für die Gesundheit wichtig sei. Die Kenntnis der "richtigen" Zeiten für medizinische Anwendungen war sowohl für den Arzt wie für den Bader von großer Bedeutung, da man annahm, dass diese den Heilerfolg beeinflussen. Dass solche Zeitangaben, die sogenannten "Erwählungen", ab dem 16. Jahrhundert auch in populären Einblatt- und Schreibkalendern angemerkt wurden, bedeutete darüber hinaus für die Patienten eine Möglichkeit der Kontrolle und Planung. Es muss hier betont werden, dass dieses Welterklärungssystem nicht auf Empirie beruhte; es stellt aber für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit den aktuellen Stand gelehrten Wissens dar.

Mondregeln finden sich außerdem in den "Planetenbüchern" (gedruckt belegt seit 1555), einer frühen Form laienastrologischer Literatur, in den "Bauernpraktiken" (gedruckt seit 1508 nachweisbar) und in der sogenannten "Hausväterliteratur", einer frühen Form der Ratgeberliteratur, die einerseits antike Landwirtschaftsliteratur in die Neuzeit transportierte, andererseits begann, jene um praktisches Wissen zu erweitern. Prominentestes Beispiel ist die "Oeconomia ruralis et domestica" des Johannes Colerus aus dem frühen 17. Jahrhundert. Inwieweit hier auf eine Alltagspraxis geschlossen werden kann, lässt sich schwer beurteilen. Selbst die literarische Anmerkung, etwas aus dem Mund eines "gemeinen Mannes" erfahren zu haben, ist eher ein zeittypischer gelehrter Topos, der Volksnähe demonstrieren soll, denn das Ergebnis einer tatsächlichen Befragung. Die genannte Literatur erreichte vor allem gebildete Personen, die als Verwalter und Gutsherren aber durchaus zu einer Verbreitung von Mondregeln beitragen konnten.

Einen entscheidenden Einschnitt in der medialen Vermittlung von Mondregeln stellt die Zeit von Aufklärung und Volksaufklärung im 18. und 19. Jahrhundert dar. Da die Aufklärer den ehemals gelehrte Hintergrund der Mondregeln nicht erkannten und sich auch gegen frühere Formen der Wissenschaft abzugrenzen versuchten, wurden die "Erwählungen" und Mondregeln als "ungebildeter Aberglaube" bezeichnet und damit aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst. Zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts verschwanden die Erwählungen aus den populären Kalendern. Es handelt sich dabei um einen allmählichen Prozess, der teilweise durch pädagogische Umdeutungen der vertrauten Zeichen vollzogen wurde; der Versuch, radikal auf die astrologischen Kalenderzeichen zu verzichten, führte anfangs nur dazu, dass die neuen, "aufgeklärten" Kalender ein verlegerisches Fiasko darstellten.

Wichtig für die weitere Entwicklung ist die Aufwertung des vermeintlichen "Aberglaubens" durch die Romantische Wissenschaft im 19. Jahrhundert und die Neukontextualisierung als der vermeintliche Rest einer "urdeutschen Kultur". Jacob Grimm schrieb in der "Deutschen Mythologie" von 1835:

„Unter aberglauben ist nicht der gesamte inhalt des heidnischen glaubens, der ein wahn, ein falscher glaube erscheint, zu verstehn, sondern die beibehaltung einzelner heidnischen gebräuche und meinungen.“

Und speziell auf den Mond bezogen:

„Ich habe versucht hinter abergläubischen gebräuchen einen sinn zu entdecken, der vielleicht nahe an ihre ursprüngliche bedeutung trift. [...] auf opfer, loose, kriegführung wird damals die beachtung der mondwechsel manigfach eingeflossen haben.“

Diese gelehrte Konstruktion einer Kontinuität kultureller Phänomene von der germanischen Zeit bis in die Gegenwart entwickelte bis ins 20. Jahrhundert eine enorme Prägekraft. Adolf Wuttke unterschied 1860 in seinem Werk „Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart“ bei den Aussagen zum Mondglauben zwischen solchen, die ihre Herkunft aus der Astrologie klar erkennen lassen und solchen, die er in einem allgemeinen „Aberglauben“ verortete:

„Merkwürdig ist es, daß sich im Volksaberglauben auch noch die Anerkennung der Schicksalsdeutung aus den Sternen, der Astrologie, erhalten hat, also ein Element des morgenländischen Heidentums. […] Die Beachtung der M o n d z e i t e n ist eine der volkstümlichsten, uralte, durch alle Völker hindurchgehende Gestalt des Aberglaubens.“

Diese Neubewertung des von der Aufklärung verdrängten Mondglaubens führte dazu, dass innerhalb der antimodern ausgerichteten Forschungstätigkeit des 19. Jahrhunderts auch Mondregeln gesammelt und unter der Annahme einer autochtonen Entwicklung publiziert wurden. Aufgegriffen wurden sie auch in den Werken der Heimatschutzbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, z.B. in den Tiroler Heimatblättern, in den astrologischen Kalendern, die in Deutschland als eigene Gattung seit ca. 1920 erscheinen, sowie in populärer Literatur. Der beliebte Schriftsteller Hans Sterneder schrieb 1926 in dem Roman "Frühling im Dorf":

„Ich traf heute den alten, weißhaarigen Bauern Jakob Sonnleitner in späterer Nachmittagsstunde, als er gerade daran war, von seinem Leiterwagen den großen Saatsack abzuladen. […], fragte ich ihn: „Ja, Vater Sonnleitner, so spät heut erst an der Arbeit?“ „Ja, so spät und doch zur rechten Zeit!“ entgegnete er mir schmunzelnd, die blaue Schürze umhängend und sie vorne zu einem Sack zusammen-raffend. „Wie versteh’ ich Euch, Vater Sonnleitner, Ihr kommt ja in die sinkende Nacht hinein.“ „Da müssen Sie schon mit dem Monde reden. […] Die Menschen halten heutzutage nicht mehr viel davon. Mir aber hat mein Vater – Gott hab ihn selig! – schon immer gesagt: „Jakob, wenn du den Segen des Himmels mit dir haben willst, dann schau dein Lebtag auf den Mond!“ Der Mond, der ersetzt dir ein Dutzend Fäuste und bringt dir Wohlstand und Segen ins Haus, wenn du auf seinen Willen achtest!“ […] Ich gab mein Staunen kund. Er drauf: „Ja, das sind so Regeln; altes Bauernwissen! Wer soll’s denn besitzen als wir, die wir unser Leben lang unsere Hände in der Erde haben!“ […] Ich habe ihm lange nachgeschaut, wie er mit stakendem Fuß die Feldbreite hinunterschritt und das goldene Korn sicher und gemessen aus seiner Faust fliegen ließ, das unter dem Schimmer des Mondes, der vor ihm stand, wie ein seiner Hand entgleitender Segen zur braunen, harrenden Erde flog.“

Dieses Bild des naturverbundenen Bauern wurde in den 1930er Jahren teilweise in einem völkischen Sinne interpretiert und damit das Interpretament der Bauernweisheit verstärkt. Hermann Bauer schrieb im Vorwort des "Mond=Kalender 1939":

„Für uns Menschen von heute sind die Erkenntnisse unserer Vorfahren ein heiliges Wissensgut, das leider z.T. verschüttet und durch Unberufene z.T. entweiht wurde. […] Altes kosmo-biologisches Wissen, arisches Weistum und Volkswissen und wertvolle Volksbräuche sollen mit diesem Jahrbuch lebendig erhalten, wo nötig wieder aufgedeckt, dem ganzen Volke unverfälscht nahegebracht und der Nachwelt erhalten werden. […] Er dient nicht einem einzelnen Menschen, sondern will und soll dem ganzen Volke dienen.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Neudefinition von Heimat, bezog man sich bei der zeitlichen Verortung der Regeln nicht mehr die germanische Urzeit, sondern auf die Väter- und Großvätergeneration. In den 1970er und 1980er Jahren erschienen einige heimatkundliche Werke, die unter anderem Mondregeln aufgriffen und publizierten. Das Vorgehen der Autoren kann dabei nur als naiv-dilettantisch bezeichnet werden. Durch den Verzicht auf eine moderne volkskundliche Quellenkritik wurden hier schriftliche Quellen als mündliche Quellen umetikettiert und damit das Konstrukt der "bis in die Gegenwart lebendigen Bauernweisheit" verfestigt.

Neben diesen auf verschiedenen Wegen tradierten Mondregeln wurde seit den 1960er Jahren eine eigene Form der zeitlichen Orientierung nach dem Mond populär, die auf dem anthroposophischen Weltbild Rudolf Steiners, speziell seinen "Landwirtschaftlichen Vorträgen" von 1924, aufbaut. Seit 1963 veröffentlicht die Anthroposophin Maria Thun die "Aussaattage", in denen der Mond eine zentrale Rolle spielt und die in den 1980er Jahren das "Gärtnern nach dem Mond" prägte. Dabei darf man Maria Thun nicht mit dem biologisch-dynamischen Pflanzenbau gleichsetzen, vielmehr werden ihre Ergebnisse innerhalb der anthroposophischen Landwirtschaft kontrovers diskutiert, insbesondere die von ihr eingeführten "Mondtrigone", also der Zuordnung der Pflanzenteile zu den vier klassischen astrologischen Elementen (Erde=Wurzel, Wasser=Blatt, Luft=Blüte, Feuer=Frucht). Interessanterweise lehnen die Anthroposophen die überlieferten Mondregeln weitgehend ab und beziehen sich auf eigene Anbauversuche und ein eigenes okkultes Weltbild.

Eine Besonderheit der anthroposophischen Kalender ist die Beachtung der tatsächlichen Sternbilder und nicht des Tierkreises, also der regelmäßigen Teilung der Ekliptik, der die Basis der frühneuzeitlichen Astrologie und der populären Kalender bildet. Diese Unterscheidung von Sternbildern und Tierkreiszeichen, bei denen aber die gleichen Namen und Symbole verwendet werden, ist insofern von zentraler Bedeutung, als es dadurch bei den modernen Mondkalendern zwei unterschiedliche Systeme gibt: Das astrologische System richtet sich nach dem Stand des Mondes im Tierkreis, das anthroposophische nach dem Stand des Mondes vor den Sternbildern. Da Tierkreiszeichen und Sternbilder durch die Präzession um ca. ein Zeichen gegeneinander verschoben sind, ergeben sich zwischen den beiden Kalenderformen Verschiebungen von bis zu zwei Tagen.

Diese kursorische Rekonstruktion der Entwicklung zeigt, auf welchem kulturhistorischen Substrat die modernen Mondkalender aufbauen. Die Annahme, dass es sich hier um ein "uraltes" Wissen handele, ist letztendlich ein gelehrtes Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Wie im späten 20. Jahrhundert an dem kulturellen Konstrukt Mondkalender weitergearbeitet wird, zeigt sehr gut das schon genannte Buch "Vom richtigen Zeitpunkt", das an sich einen sehr hohen Anspruch auf Authentizität stellt, indem einzig die Autorin Johanna Paungger (*1953) und ihr Großvater Josef Koller (1879-1868) als Gewährsleute genannt werden. Dass es sich bei dem Werk jedoch wie bei anderen auch um eine Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen handelt, dafür sprechen einige Indizien. Unter anderem wird die Mondqualität des "auf- und absteigenden Mondes" (Rhythmus der Monddeklination) eingeführt, die in Quellen des frühen 20. Jahrhunderts zwar im südalemannischen Raum als „obsigend“ und „nidsigend“, nicht aber in Tirol beschrieben wurde. Dabei wird die evidente Veränderung der Mondbahn in dem Werk von Paungger und Poppe etwas umständlich über die astrologischen Qualitäten der Tierkreiszeichen Zwilling und Schütze erklärt. Falsch erklärt, muss man hinzufügen, da die Wendepunkte der Mondbewegung mit den falschen Tierkreiszeichen benannt werden (eigentlich Krebs und Steinbock). Der Fehler verschwindet, wenn man statt der von Paungger und Poppe verwendeten Tierkreiszeichen die Sternbilder einsetzt, wie sie bei Maria Thun für den auf- und absteigenden Mond genannt werden. Es handelt sich also vermutlich um einen Übertragungsfehler aus dem anthroposophischen System – der dann in späteren Mondkalendern immer wieder abgeschrieben wird. Auch lässt sich die Zuordnung der vier klassischen astrologischen Elemente zu den Pflanzenteilen erstmals mit den "Mondtrigonen" bei Maria Thun nachweisen. Dies sind zwei von mehreren Indizien, die darauf hinweisen, dass Paungger und Poppe synkretistisch gearbeitet haben. Insbesondere wurden zentrale Elemente von Maria Thun direkt oder indirekt entlehnt und dann als "altes tirolerisches Bauernwissen" umetikettiert. Damit entstand ein neu konstruiertes und in seiner kohärenten Form sehr modernes Überzeugungssystem, eine Art „Bricolage“, die dann prägend für die gesamte Gattung wurde. Nicht im Kontext der auslaufenden New-Age-Bewegung, sondern als polyvalentes Thema inszeniert sich das Werk im ausgehenden 20. Jahrhundert zwischen Traditionsbegeisterung, Umweltbewusstsein und antimoderner Utopie.

Unter dem Etikett „Altes Wissen“ werden in den heutigen Mondkalendern viele moderne Aussagen und Bedürfnisse transportiert. Das zeigt sich z.B. bei der Auswahl der angesprochenen Handlungsbereiche. Standen bis ins frühe 20. Jahrhundert Landwirtschaft, Wetter und Medizin im Mittelpunkt, so verschob sich der Fokus hin zu Hausarbeit, Körperpflege und Wellness. Bezeichnend scheint mir hier die aus dem Fernsehen bekannte Fitnesstrainerin Gaby Just zu sein, die mit einer eigenen Palette von Mond-Kosmetika ein zahlungskräftiges und lifestyle-orientiertes Publikum erschlossen hat.

Die Konstruktion lunarer Wirklichkeit
Diese inhaltlichen Veränderungen der Mondkalender sind ein Indikator dafür, dass in einer als "uralt" etikettierten Form der zeitlichen Orientierung sehr moderne Bedürfnisse und Wertigkeiten zu finden sind. Daher scheint es mir unangemessen, hier nur von einer Wiederkehr des Irrationalen zu sprechen. Vielmehr handelt der Mondkalendernutzer innerhalb seines Weltbildes durchaus rational, indem er versucht, die Ressource kosmischer Eigenarten und "Energien" zu nutzen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, wie oft in den Mondkalendern wissenschaftliche Termini (Schwingung, Resonanz) benutzt werden – wenn auch meist in einem unangemessenen Kontext. Zudem wird versucht, über evidente und nachvollziehbare Erscheinungen, etwa der Gezeiten, den Rest des Überzeugungssystems zu legitimieren. Eine stereotype Aussage lautet etwa:

„Wenn man bedenkt, daß die Energien des Mondes so stark sind, daß sie Weltmeere »bewegen«, ist es nicht verwunderlich, daß auch der Mensch, der bekanntlich zu 80% aus Wasser besteht, von diesen Kräften beeinflußt wird.“

Dabei wird jedoch weder die komplexe Entstehung der Gezeiten, noch deren Rhythmik beachtet, die nicht mit den Aussagen in den Mondkalendern übereinstimmt. Stattdessen findet man häufig eine Verwechslung des ca. 29,5-tägigen synodischen Monats (zu- und abnehmender Mond) mit dem ca. 12-stündigen Meeresrhythmus (auf- und abfließendes Wasser). Dies macht aber deutlich, welche Veränderungen gelehrtes Wissen bei der Diffusion in die breitere Bevölkerung erfährt.

Die volkskundliche Forschung sucht neben der Rekonstruktion der historischen Entwicklung und dem jeweiligen Kontext nach der Relevanz für den Alltag und nach den Modernisierungen und Neuinterpretationen in der Gegenwart. Dies gilt auch für die populäre Esoterik, der die Mondkalender angehören. Der in der volkskundlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung angewandte strukturelle Zugang zeigt deutlich eine Gegenwartsgebundenheit und die Sinnproduktion der populären Esoterik für den Alltag. Die Modelle der populären Esoterik erweisen sich bei der Suche nach Sinn in der alltäglichen Orientierung als brauchbar. Holger Stenger schreibt dazu unter wissenssoziologischem Blickwinkel:

„Was auf der inhaltlichen Ebene anachronistisch erscheinen mag, erweist sich auf der strukturellen Ebene als ausgesprochen modern: Die Wissenssysteme des New Age stellen reflexive Kategorien zur Verfügung, die dem Verwender eine Systematisierung von Erfahrungen zu integrierten Sinneinheiten gestattet. Im Unterschied zu anderen etablierten Wissenssystemen, die ebenfalls reflexive Kategorien zur Verfügung stellen (Religion, Wissenschaft) ist im New Age ein Kurzschließen von individueller Erfahrung, Sinnherstellungskompetenz und formalen Wissenselementen möglich."

Zentral sind die Fragen nach dem Verhältnis von „Wirklichkeit und Selbst,“ sowohl bei der Sinnproduktion im Alltag, als auch bei der Konstruktion von Identität. Die populäre Esoterik bietet dabei eine explizit geforderte Beachtung der subjektiven Erfahrungen, die in einen neuen, einen okkulten Kontext gestellt werden können.

„Das heißt, die Fähigkeit, einen okkulten Kontext „eröffnen“ zu können, ist die spezifische Form einer Sinnherstellungskompetenz. „Sinn“ ist in diesem Zusammenhang eine empirische Kategorie und meint eine unterscheidbare Praxis, ein Muster von Objektbezügen und kategorialen Verknüpfungen in der Interpretation von Welt. Sinnherstellung in einem okkulten Kontext beinhaltet dann z.B. die Verknüpfung alltagsweltlicher Ereignisse mit Kategorien eines okkulten Kontextes.“

Der geläufige Terminus „okkult“ steht dabei in seiner neutralen Bedeutung als „verborgen“, um damit einen zentralen Aspekt der heterogenen Erscheinungen populärer Esoterik zu benennen: Die Annahme einer größeren Wirklichkeit hinter der sinnlich erfahrbaren Welt. Ob es sich dabei um einen Fund oder um eine Erfindung handelt, wird in der esoterischen Literatur nicht diskutiert.

Für die volkskundliche Betrachtung des Phänomens der populären Esoterik stellt sich eine ganz zentrale Frage: Wie erfährt der Einzelne von dieser Welt hinter der Welt bzw. von den behaupteten größeren Sinnzusammenhängen? In der Regel stehen ja keine persönlichen Erfahrungen am Anfang. Häufig erfolgen der Kontakt und die weiteren Lehrerfahrungen über das umfangreiche Buchangebot, weshalb Dirk Otten hier von einer „Lesereligiosität“ spricht. Hinzu kommen der Besuch von Workshops und Kursen, sowie die Erzählungen Anderer. Über diese „soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit“ werden absichtsvoll okkulte Erlebnisse angeregt, die dann wiederum in Erzählungen kommuniziert werden.

Diese Konstruktion einer eigenen Wirklichkeit ist auch bei den modernen Mondkalendern zu beobachten: Über empirische Erhebungen (Interviews) konnte ich feststellen, dass durch ein als „uralt“ etikettiertes Deutungs- und Bewertungsraster sehr aktuelle Bedürfnisse und Wertigkeiten angesprochen werden. So wurde deutlich, dass sich bei den Anwendern durch das Erlernen einer Symbolsprache eine individuelle „Kompetenz“ entwickelt, die es ermöglicht, alltägliche Tätigkeiten unter einem neuem Blickwinkel, in einem okkulten Kontext zu betrachten und Erfahrungen zu kommunizieren. Diese „Kompetenz“ ermöglicht aber auch die Beurteilung und die Illusion der Einflussnahme in Bereichen, die stark emotional belegt sind. Die Wahl des „richtigen“ Operationstermins vermag z.B. Ängste zu binden, da man ja sein Möglichstes getan habe. Ebenso lassen sich alltägliche Missgeschicke rationalisieren - der Mond stand "falsch". Eine systematische Beobachtung im Zusammenhang mit dem Gebrauch der Mondkalender findet nicht statt, und ist aus Sicht der meisten Anwender auch nicht notwendig. Evidenzerlebnisse treten an die Stelle einer Reflexion über das eigene Überzeugungssystem. Dabei kann sich der Mondglaube gerade dann stabilisieren, wenn er eher sporadisch angewendet wird, da hier der Mechanismus der selektiven Wahrnehmung besonders gut greift. Die Beliebigkeit der Mondregeln wird nicht wahrgenommen, alternative Erklärungsmöglichkeiten werden ausgeblendet. Wir haben es also durch die Jahrhunderte mit einem kulturellen Konstrukt zu tun, das dann aber bei den Anwendern Denkweisen vorprägt und Evidenzerlebnisse unterstützt.

Fazit
Das in den heutigen Mondkalendern vermittelte "Wissen" ist kein uraltes, empirisches Bauernwissen, wie in den Kalendern zur Legitimation der Regeln behauptet wird. Vielmehr sind es die Versatzstücke ehemals elitekultureller Welterklärungssysteme, die mehrmals aus dem jeweiligen Zusammenhang genommen und neu kontextualisiert wurden. Das Interpretament der "lebendigen Bauernweisheit" entstand im 19. Jahrhundert und wird im 20. Jahrhundert als Etikettierung höchst moderner Erscheinungen verwendet. Hinter der modernen Konstruktion der Mondkalender steht also eine längere kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung, die bis in die Gegenwart anhält – bis heute wird an den Mondkalendern weitergeschrieben. Als moderne Alltagspraxis und als System der zeitlichen Orientierung können Mondkalender auch als zeitspezifische Indikatoren für aktuelle Bedürfnisse, Ängste und Utopien analysiert werden. Dabei ist die Frage der Empirie eher sekundär, da offensichtlich aktuelle Bedürfnisse bedient werden.

Oder: Wenn's auch nichts nützt, so hilft es doch.

 

Dieser Artikel ist erschienen im Skeptiker 2/2007 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

Sie möchten mehr über Mondkalender erfahren? Buchen Sie einen Vortrag oder lesen Sie das Buch!

 


Literaturhinweise
Bues, C. T. / Triebel, Jens: „Mondholz“-alles erlaubt? Sorgloser Umgang mit Mondholz schadet dem Image des Holzes allgemein. In: Wald und Holz, Band 85, 3/2004, S. 31-35.
Fellner, Josef / Teischinger, Alfred: Alte Holzregeln. Von Mythen und Brauchbarem über Fehlinterpretationen zu neuen Erkenntnissen. Wien 2001.
Hammer, Martin: Zunehmend lukrativ. Der Ratgebermarkt boomt: Die Verlage entdecken den Mond und seine Phasen. In: Süddeutsche Zeitung, 14./15. 12. 2002, S.51.
Hauser, Albert: Bauernregeln. Eine schweizerische Sammlung. Zürich. München 1973, S. 358.
Just, Gaby: Mond-Buch. Für Fitness, Schönheit & Gesundheit. München 2000.
Otten, Dirk: Populäre Esoterik. "Okkultismus" und "New Age" als Forschungsproblem. In: Jahrbuch für Volkskunde 1995, S. 89-113.
Paungger, Johanna / Poppe, Thomas: Vom richtigen Zeitpunkt. Die Anwendung des Mondkalenders im täglichen Leben. München 41992 (1. Auflage: 1991).
Paungger, Johanna / Poppe, Thomas: Aus eigener Kraft. Gesundsein und Gesundwerden in Harmonie mit Natur- und Mondrhythmen. München 1993.
Rotton, J., Kelly, I.W. (1985): Much Ado About the Full Moon: A Meta-Analysis of Lunar-Lunacy Research. Psychological Bulletin 97, 286.
Stenger, Horst: Der „okkulte“ Alltag. Beschreibungen und wissenssoziologische Deutungen des "New Age". In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 2, April 1989, S. 119-135.
Stenger, Horst: Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Eine Soziologie des "New Age". Opladen 1993
Stenger, Horst: Kontext und Sinn. Ein typologischer Versuch zu den Sinnstrukturen des "New Age". In: Soziale Welt 41, 1990, Heft 3, S. 383-403.
Treiber, Angela: Populäre Religiosität in der Industrie- und Informationsgesellschaft: Heil und Heilung durch Steine. In: RheinJbfVk 35 2003/2004, S. 305-338.
Wunder, Edgar / Schardtmüller, Michael: Moduliert der Mond die postoperative Blutungsgefahr und andere Komplikationsrisiken im Umfeld von chirurgischen Eingriffen? In: Zeitschrift für Anomalistik, Band 2 (2002), S. 91-108.
Wunder, Edgar: Geburtshelfer Mond? Zum paranormalen Überzeugungssystem des Lunatismus und seiner empirischen Überprüfung. Teil 1: Die Forschungsgeschichte von 1829 bis heute. Teil 2: weiter schlechte Nachrichten für Mondgläubige. In: Skeptiker 1/95, S. 7 - 14, bzw. 2/95, S. 51-57.

 

 
 

 

  Das Buch
   
  Vorträge über
Mondkalender
   
  Presse und Medien
   
  Impressum/Kontakt
Datenschutz